In Finnland ist Jean Sibelius (1865–1957) ein Nationalheld, in Großbritannien gilt er als wichtigster Nachfolger Beethovens in der Sinfonik, in Deutschland hingegen hat seine Musik nicht in gleicher Weise Fuß gefasst. Das Philharmonische Orchester Vorpommern führt zwischen 2022 und 2024 erstmals in seiner Geschichte alle Sibelius-Sinfonien auf. In der begleitenden Vortragsreihe sollen Werk und Persönlichkeit des Komponisten in einem breiteren Umfeld beleuchtet werden – was alle Interessent*innen vor Ort und online verfolgen können.
Der Eröffnungsvortrag der Reihe ist in der Mediathek des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs abrufbar: Er fand nicht von ungefähr genau am Geburtstag des „Nationalkomponisten”, dem 8. Dezember, statt. Der Musikwissenschaftler Prof. Dr. Tomi Mäkelä von der Universität Halle-Wittenberg, einer der international führenden Sibelius- Forschenden, stellte die Position des Komponisten zwischen nationaler Verortung und künstlerischem Weltbürgertum dar. Dabei gewährte er auch Einblick in einen wahren Fundus historischen Fotomaterials und konnte einige Anekdoten zum Bestengeben.
Den zweiten Vortrag hielt Ende Januar Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Gülke, als Dirigent wie als Musikwissenschaftler gleichermaßen erfahren. Er beschäftigte sich u.a. mit einem musikgeschichtlich heißen Eisen, der Kritik Theodor W. Adornos an Sibelius: Adornos Glosse über Sibelius, eine Reaktion auf die weit verbreitete unkritische Sibelius-Verehrung in den 1930er-Jahren, kanzelte die Musik des Finnen erbarmungslos als dilettantisch ab, was in Finnland eine bis heute anhaltende Kontroverse auslöste.
Eine Stärke der von Dr. Florian Czismadia und Benjamin Schweitzer konzipierten Reihe ist, dass sie zugleich die Kenntnisse profilierter Fachleute zu Gehör bringt, gleichzeitig aber auch geradezu kurzweilig ist und sich an alle Interessierten, nicht nur an Fachleute, richtet. Auch das musikalische Erlebnis findet in den Vorträgen seinen Niederschlag.
Zudem hatte das Philharmonische Orchester Vorpommern unter Generalmusikdirektor Dr. Florian Czismadia schon Anfang 2022 seinen über mehrere Spielzeiten angelegten Sibelius-Zyklus begonnen. Die Tatsache, dass das Orchester damit erstmals in seiner Geschichte sämtliche Sinfonien des Finnen aufführt, mag ein Indiz dafür sein, dass es Sibelius und sein Schaffen hierzulande durchaus noch zu entdecken gibt. Die Vortragsreihe, deren Mitveranstalter außerdem die Universität Greifswald ist, könnte man als „Reiseführer“ zu dieser Entdeckungstour verstehen: Sibelius soll aus möglichst vielen Blickwinkeln ausgeleuchtet werden.
Alle Vorträge sind, wenn auch mit leichter Verzögerung, in der Mediathek nachzuerleben.
Marion Holtkamp
Ort: Alfried Krupp Wissenschaftskolleg, Martin-Luther-Str. 14, 17489 Greifswald
Dauer: 8.12.2022–23.1.2024
Vortrag + Streaming an den jeweiligen Terminen um 18.15 Uhr
Weitere Infos/Mediathek: www.wiko-greifswald.de
Kirjoitus on julkaistu Rengas-lehden numerossa 5–6/2023